Der nackte Pole

Märchen sind etwas, das jeder kennt. Aus einem unbekannten Grund beginnen sie alle mit der gleichen Phrase. Es war einmal ein Märchen. Oder so. Es ist nicht bekannt, wem wir diesen Start zu verdanken haben. Vielleicht schon. Ich weiß nicht. Hab nicht nachgeforscht. Jedenfalls scheint jeder zu wissen, was kommt, wenn ein Text so beginnt. Nach heutiger, moderner, Regel weiß man sogar, dass es ein Happy End geben wird. Das war früher nicht so. Früher war alles besser. Fast alles. Da gab es mich nämlich noch nicht.

Na jedenfalls ist heute klar, was kommt, wenn ein Text so beginnt. Und so komme ich mir selber langsam auch vor, denn die meisten meiner Texte beginnen mit einer Phrase wie „Wie ihr vielleicht wisst“ oder „Einige von euch wissen, dass“ oder „Seit einiger Zeit“ oder „In den letzten Wochen“. Vielleicht ist das auch nur einfach mein Schreibstil und vielleicht ist das etwas gutes. Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es ja Linguisten unter euch, die sich damit besser auskennen.

Fakt ist, dass ich nur deshalb über Märchen und den Beginn von Geschichten und meine Schreibweise geschrieben habe, damit dieser Beitrag anders anfängt, als man es von mir vielleicht gewohnt ist. Das bedeutet, dass die bisherigen Absätze völlig überflüssig waren, zur eigentlichen Geschichte nichts beitragen und für euch und mich eine Zeitverschwendung dargestellt haben. Das tut mir leid. Ich werde jetzt so starten, wie ich es eigentlich vorhatte.

In den letzten Wochen (seht ihr – ich wusste es!) war ich viel auf Montage. (An dieser Stelle hätte ich auch schreiben können „Wie ihr vielleicht wisst“ oder „Einige von euch werden wissen, dass ich in letzter Zeit viel auf Montage bin“. Ich bin gefangen, sendet Hilfe!) Eine Montage bringt mit sich, dass man oft an Orten ist, die man nicht kennt und mit vielen Leuten zu tun hat und mit ihnen arbeiten muss, die man zuvor noch nie getroffen hat. Es kommt mir teilweise vor wie ein Schärfen des Charakters und ein Stärken des Selbstbewusstseins. Ich glaube, ich werde gerade ein zweites Mal erwachsen. Wie dem auch sei – in unbekannter Umgebung mit unbekannten Leuten passieren viele seltsame Dinge. So auch an jenem schicksalhaften Freitagabend.

An diesem Abend packte einer meiner Kollegen, mit denen ich die angemietete Wohnung mitten im Nirgendwo teile und bewohne, seine Bluetooth-Box aus. So eine von Bose, wie sie irgendwie jeder zu haben scheint. Ich nicht. Teufel ist eh geiler. Wie dem auch sei – er verband sie mit seinem Handy und machte Musik an. Laut. Es bleibt zu bedenken, dass es zwar Freitagabend war aber die Wohnungen um uns herum auch alle an Monteure vermietet sind und die teilweise, wie wir auch, am Samstag arbeiten müssen. Somit ist Freitag eigentlich kein besserer Tag, um einen langen Abend zu verbringen, als z.B. Dienstag.

Mit diesem Wissen bewaffnet fanden wir uns jedenfalls in der Situation wieder, dass es plötzlich an der Tür klingelte. Wir sind davon ausgegangen, jemand meckert wegen der Musik, also wurde sie leiser gedreht und mein Kollege schritt zur Tür. Als er sie öffnete, stand dort ein Mann, der scheinbar gut angetrunken sofort den ersten Fuß in unsere Wohnung setzte und versuchte, sich mit unsicheren Schritten einen Weg in unseren Flur zu bahnen.

(An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass mein Kollege etwas polnisch kann und die Konversationen alle auf polnisch abliefen. Dem einfachen Schreibstil zuliebe werden wir diesen Umstand einfach mal gekonnt ignorieren.)

Der Mann polnischer Abstammung war auf dem Weg, seinen Pfad durch unsere Wohnung nach den ersten ein, zwei Schritten fortzusetzen, als mein Kollege an ihm herabblickte und merkte, dass er komplett nackt war. So richtig. So, dass man nicht nackter hätte sein können. Ein zensierter Adam auf dem Schöpfungsgemälde wäre im Vergleich reich bekleidet gewesen.

Mein Kollege jedenfalls, geistesgegenwärtig, setzte ihm die Hand auf die nackte Brust und hielt ihn mühelos auf. Ebenso mühelos schob er ihn rückwärts und mit verbalem Widerspruch aus der Wohnung heraus und schloss so schnell und energisch die Tür, wie es nur möglich war. Doch damit gab sich der nackte Pole nicht zufrieden.

Vom Hausflur aus konnte man ihn hören, wie er an der Tür klopfte und sich lallend beschwerte. Nicht ausfallend, sondern nur fordern. Es klingelte wieder. Es klopfte. Es scharrte. Wirklich! Der Typ stand da draußen, komplett nackt, besoffen und kratzte an unserer Tür wie eine Katze an der Balkontür, die unbedingt rausgelassen werden will.

Es dauerte ein paar Minuten, bis die Kollegen des Adams ankamen und versuchten (auf deutsch) ihn von unserer Tür wegzuholen. Das gefiel ihm aber nicht und er entgegnete: „Da sind Leute! Dadrin sind Leute!“ Und er klopfte erneut. Dieser Typ war so fasziniert davon, dass sich hinter einer Tür andere Leute befanden, dass er unbedingt zu uns rein wollte. Die lockeren Worte seiner Kollegen konnten ihn von seinem fixen Gedanken kaum abbringen. „Lass doch die Leute in Ruhe“, brachte nicht sonderlich viel. Schließlich kam noch ein dritter Kollege dazu und plötzlich rummste es noch etwas energischer. Es klang so, als wäre der Typ umgeklappt und läge von draußen rücklings mit dem Kopf an unserer Tür. Weiteres Scharren und Kratzen. „Dadrin sind Leute!“ Wenige Augenblicke später griff der erwähnte dritte Kollege ein, sprach „So, jetzt gibt’s auf’s Maul!“, packte ihn scheinbar und zerrte ihn in ihre Wohnung. Dann war Stille.

Ich weiß nicht, was dann passiert ist aber ich denke, es gibt so etwas wie nüchtern prügeln. Muss es. Vielleicht macht der Kollege so etwas auch öfter und sie wussten schon, dass die einzige Heilmethode, um ihn zur Vernunft zu bringen, ein Haken auf’s Fressbrett ist. Wir werden es wohl nie erfahren.

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Und wisst ihr, was ganz toll ist? Weil wir 2018 schreiben, muss ich mich jetzt von Gewalt distanzieren, weil ich sonst noch von irgendwelchen Pazifisten verurteilt werde. Vielen Dank. Die Gegenwart nervt.

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Vielleicht ist Adam ja bereits seit Jahren dort auf Montage untergebracht und Eure Wohnung war all die Zeit frei.
Vielleicht sind außer Eurer und Adams Wohnung ALLE immer frei und Adam weiß gar nicht mehr wie es ist außerhalb der Arbeit andere Menschen gibt.
Oder er darf es nicht wissen, dass es noch andere außer ihm gibt und er wird gefangen gehalten.
Mit diesem Blogeintrag als Prolog kann man ganze Dystopien füllen!